Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In Deutschland wurde die Gefahr nicht erkannt, die von Russland für Frieden in Europa und die wirtschaftliche Stabilität in Deutschland ausgeht. Das muss sich ändern – durch vorausschauende Planung.
Eine Frage stellt sich in Krisensituationen immer: warum hat es niemand kommen sehen? Im Jahr 2008 war es keine Geringere als Königin Elisabeth II, die inmitten der globalen Finanzkrise fragte, wieso niemand die Zerbrechlichkeit des Weltfinanzsystem vorausgesagt hatte.
Gut zehn Jahre später sucht Deutschland seine Antwort auf die gleiche Frage. Wie konnte es sein, dass sich das Land so blindlings von Putins Russland und seiner Energie abhängig machte? Die Gefahr, die von Russland für den Frieden in Europa, aber auch für die soziale und ökonomische Stabilität Deutschlands ausging, blieb bis zuletzt unerkannt.
Die Ursachen kollektiver Arglosigkeit müssen in den nächsten Jahren aufgearbeitet werden. Allerdings darf die Zeitenwende-Rhetorik den Blick darauf nicht verstellen, dass auch nach dem 24. Februar die deutsche Politik in zentralen Fragen weiter von falschen Prämissen ausging.
Konkret musste die Berliner Politik nach Putins brutalem Überfall auf die Ukraine zwei entscheidende Fragen beantworten: Erstens, welche Rolle können Waffenlieferungen für die Entwicklung des Krieges spielen? Zweitens, wie hoch ist der Preis kurzfristig die deutsche Energieunabhängigkeit von Russland wiederzugewinnen?
Was die erste Frage angeht, so war die vorherrschende Sicht in Berlin lange, dass die Ukraine selbst mit umfangreichen westlichen Waffenlieferungen den Krieg nicht gewinnen könne. Die Idee, Deutschland für einen aussichtlosen Kampf zum Teilnehmer eines Konflikts werden zu lassen, der im schlimmsten Fall in einer nuklearen Eskalation enden könnte, konnte man somit bequem vom Tisch schieben. Diese Sicht hat sich nach mehr als einem halben Jahr Krieg als falsch herausgestellt. Kyiv’s Streitkräfte konnten dank hervorragendem Training und westlichen Waffen die russische Aggression nicht nur stoppen, sondern in den letzten Wochen sogar erhebliches Territorium zurückerobern.
Auch bei der zweiten Frage ging die Berliner Politik von falschen Prämissen aus. Die Bundesregierung prognostizierte für den Fall eines Ausbleibens russischer Gaslieferungen „Massenarmut“ und sprach von der Möglichkeit eines Wirtschaftseinbruchs von mehr als 10% — weitaus stärker als etwa in der globalen Finanzkrise oder während der Corona-Pandemie. Auch in diesem Punkt sind wir inzwischen klüger. Russland hat seine Gaslieferungen inzwischen gestoppt. Der Gasverbrauch im produzierenden Gewerbe ist um gut 20% relativ zum Vorjahr gefallen. Aber die Produktion ist bisher annähernd stabil geblieben, und die Speicher füllen sich weiter. Keine Frage: die nächsten Monate werden hart, aber mit realistischen Einsparungen und guter Politik kann Deutschland ohne russische Energie durch den Winter kommen.
Unter dem Strich lag Berlin also auch bei den zwei entscheidenden militärischen und ökonomischen Fragen nach der Zeitenwende daneben: Die Ukraine war mit westlicher Unterstützung sehr wohl in der Lage sich zu verteidigen und die ökonomischen Auswirkungen eines Gaslieferstopps aus Russland sind weniger dramatisch als von der Bundesregierung zunächst angenommen. In beiden Fällen vergingen kostbare Monate bis die Regierung mühsam den Kurs korrigierte.
Diese Fehleinschätzungen zeigen vor allem, dass Berlin weiter die Entscheidungs- und Evaluationstrukturen fehlen, um komplexe strategische Fragen zu beurteilen und auf unerwartete Ereignisse zu reagieren. Strategische Analysen sperren sich oft gegen die Struktur von behördlichen Zuständigkeiten. In den angelsächsischen Ländern sind strategische Planung und Risikomanagement nicht nur Aufgabe des Militärs, sondern eine Ressort-übergreifende Aufgabe, die ökonomische, militärische und andere Aspekte vereint.
In welchem Rahmen diskutieren Experten und Entscheidungsträger in Deutschland, wie man reagieren soll, wenn China einen militärischen Konflikt mit Taiwan heraufbeschwört? Welche Antworten haben wir, wenn die ökonomischen Beziehungen mit China als Deutschlands wichtigstem Handelspartner wegbrechen? Wie verhält sich Deutschland, wenn in den USA bei den nächsten Wahlen eine isolationistische Regierung ins Amt kommt und die Bündnispartnerschaften aufkündigt? Wie sieht Deutschlands Plan B in diesen Fällen aus?
Zwar werden diese und andere Fragen in Planungsstäben und in Denkfabriken, Universitäten, Unternehmen und Nicht-Regierungsorganisationen aufgegriffen. Es gibt zurzeit aber keine Strukturen und Institutionen, um solche Fragen rigoros auf höchster Ebene zu durchdenken und Kompetenzen in den Ministerien aufzubauen. Die Folge ist, dass die Berliner Politik immer wieder von den Ereignissen überrannt wird und im Krisenmanagement hinterherhinkt. Deutschland muss in Zukunft Mechanismen entwickeln, um Ressort-übergreifend systemrelevante Risiken einzuschätzen und ökonomische, politische und militärische Faktoren zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.
Dabei geht es zum einen darum, wirtschaftliche Abhängigkeiten und technologische Kapazitäten stärker unter sicherheitspolitischen Aspekten zu betrachten. Zum anderen wird es wichtig sein, auch unbequeme Szenarien zu analysieren und unliebsame Hypothesen zu testen. Entscheidend ist zudem, dass sich die Regierung von Interessengruppen lösen kann, da sich diese in der Regel im Ist-Zustand eingerichtet haben.
Um in Zukunft außerhalb der Komfortzone zu planen, wird Deutschland neue Institutionen schaffen müssen. Ein am Kanzleramt angesiedelter nationaler Sicherheitsrat mit einer Mischung aus Entscheidungsträgern und unabhängiger Experten könnte ein solches Gremium sein. Auch in Forschung und Lehre an den Universitäten muss die Makroanalyse und international Ökonomik wieder gestärkt werden, um Deutschlands gewachsener Rolle als Krisenmanager in Europa und der Welt gerecht zu werden. Denn eines ist im Zeitalter der neuen Unsicherheiten gewiss: die nächste Krise kommt bestimmt.
Moritz Schularick ist Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Sciences Po Paris und der Universität Bonn. Guntram Wolff ist Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Professor in Teilzeit an der Freien Universität Brüssel. Cornelia Woll ist Präsidentin und Professorin an der Hertie School in Berlin.