Dieser Beitrag erschien zuerst in der Welt am 8.11.2023.
Obwohl die Schuldenbekämpfung notwendig ist, müssen die EU-Mitgliedstaaten umfangreiche Kosten stemmen – etwa für die Energiewende. Damit die Europäische Union auch angesichts von Krisen souverän bleibt, muss sie jetzt ihre Fiskalregeln neu überdenken.
Mit dem raschen Anstieg der Zinssätze rückt die Frage nach der Tragfähigkeit der europäischen Schulden, der Finanzpolitik und der Finanzarchitektur wieder in den Vordergrund. Insgesamt ist die Situation nicht besonders besorgniserregend, insbesondere im Vergleich zu den USA oder dem Vereinigten Königreich. Der Euroraum hat einen niedrigeren Schuldenstand und geringere geplante Haushaltsdefizite.
Die Finanzarchitektur ist jedoch unklar. In den vergangenen Jahren haben sich die europäischen Finanzminister mit der Reform der europäischen Haushaltsregeln und insbesondere des Stabilitäts- und Wachstumspakts herumgeschlagen. Die Regeln wurden entweder durch Ad-hoc-Ausnahmen ausgehöhlt oder in Krisenzeiten gänzlich ausgesetzt.
Es schien, als gäbe es endlich eine Chance, den Rahmen zu verbessern, der die europäischen öffentlichen Finanzen regelt. Der intellektuelle Konsens unter den Ökonomen hatte sich zugunsten eines neuen Regelwerks verschoben, das auf der Analyse der Schuldentragfähigkeit und auf einer Ausgabenregel beruht. Die Hoffnung war, dass ein solches neues Regelwerk einfacher, transparenter und weniger prozyklisch sein würde als die derzeitigen Regeln. Einige hofften auch, dass die Reform der Regeln es ermöglichen würde, öffentliche Investitionen, besonders in die Klima- und Energiewende, vor der Haushaltskonsolidierung zu schützen.
Ein Jahr nach Beginn der Verhandlungen und angesichts der bevorstehenden Europawahlen im Juni 2024 muss man feststellen, dass die Finanzminister kaum Fortschritte gemacht haben. Der deutsche Finanzminister beharrt auf einem nominalen jährlichen Schuldenabbau für alle Länder. Frankreich und Italien sind untätig und scheinen mit den derzeitigen Regeln gut leben zu können, weil sie wissen, dass sie das System bei Bedarf austricksen können. Spanien und die Niederlande, die die eigentliche treibende Kraft hinter den Verhandlungen waren, werden nun beide durch innenpolitische Unsicherheit gebremst.
Die Realität sieht so aus, dass die derzeit diskutierten Kompromissregeln hinter den ursprünglich erklärten Zielen zurückbleiben.
Die Realität sieht so aus, dass die derzeit diskutierten Kompromissregeln hinter den ursprünglich erklärten Zielen zurückbleiben: Sie sind nicht einfacher, wahrscheinlich nicht einmal weniger prozyklisch und sie schützen sicherlich nicht die öffentlichen Investitionen in die Energiewende.
Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es unwahrscheinlich, dass vor den bevorstehenden Europawahlen im Juni 2024 neue Regeln vereinbart werden. Dies wirft wichtige Fragen für die europäische Finanzpolitik auf.
Kurzfristig könnte dies den Eindruck verstärken, dass Europa einen wichtigen finanzpolitischen Anker verloren hat. Dies wird die Europäische Kommission vor echte Herausforderungen stellen, wenn sie die aktuellen Haushaltspläne bewertet und den Mitgliedstaaten Empfehlungen gibt. Angesichts der immer noch hohen Inflationsraten sollten die Kommission und der Rat sicherstellen, dass die nationalen Haushalte für 2024 kein größeres strukturelles Primärdefizit aufweisen.
Da es keine neuen Rechtsvorschriften gibt, müssen die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten sich darauf verständigen, welche Regeln sie wie anwenden wollen. Anstelle von völliger Diskretion und willkürlichen Entscheidungen müssen klare Vorgaben gemacht werden.
Im Jahr 2015 führte Kommissionspräsident Juncker eine „Flexibilitätsklausel“ ein, um Strukturreformen und Investitionen zu berücksichtigen. Er trug damit wesentlich zu einer weniger dogmatischen und prozyklischen Anwendung der Regeln bei.
Die makroökonomische Situation ist heute eine andere, und obwohl eine Haushaltskonsolidierung notwendig ist, müssen die Mitgliedstaaten umfangreiche öffentliche Investitionen, zum Beispiel für die Energiewende, tätigen. Die Kommission muss die Kohärenz zwischen fiskalischer und klimatischer Nachhaltigkeit sicherstellen.
Die Kommission muss die Kohärenz zwischen fiskalischer und klimatischer Nachhaltigkeit sicherstellen.
Nicht zuletzt muss Europa seine fiskalische Architektur über die Regeln hinaus neu überdenken. Die Fiskalregeln, der künftige Umfang des EU-Haushalts, seine Ressourcen, seine Ausgabenstruktur und die langfristige Fähigkeit der EU zur Kreditaufnahme sind miteinander verbunden.
Die EU braucht einen „Grand Bargain“
Angesichts der wachsenden globalen Herausforderungen wird die Frage der EU-Ressourcen für die Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter immer wichtiger. Die EU muss sich auf einen fiskalischen „Grand Bargain“ einigen, um ihre geoökonomischen, klimapolitischen und sicherheitspolitischen Herausforderungen sowie die Erweiterung der EU und Stabilisierung der Nachbarschaft zu bewältigen.
Erforderlich sind EU-Eigenmittel und eine begrenzte, aber dauerhafte Fähigkeit zur Kreditaufnahme, die aber nur für die Finanzierung von wachstumsfördernde europäische Investitionen genutzt werden sollte, sowie ein reformierter EU-Haushalt mit stärkerer Ausrichtung auf Wachstum und öffentliche Güter. Als Gegenstück zu der größeren EU-Rolle bei öffentlichen Gütern könnten strengere Fiskalregeln eingeführt werden.
Bis zu einer grundlegenden Reform der Finanzarchitektur wird sich die EU weiter durchwursteln, aber sie kann sich den strukturellen finanzpolitischen Herausforderungen langfristig nicht entziehen.