Oped in die WELT
Guntram Wolff
Deutschland und die mittel- und osteuropäischen Länder erleben seit dem Anfang des Krieges einen außergewöhnlichen Energieschock. Im Laufe eines halben Jahres hat ihr wichtigster Erdgaslieferant, Russland, seine Lieferungen fast vollständig eingestellt. Gas spielte im Primärenergiemix der Region eine zentrale Rolle und machte über 20 Prozent der Energieversorgung aus. Finanzanalysten sagen nun voraus, dass die Gaspreise in Europa in den nächsten zehn Jahren deutlich höher als in den USA und im Vergleich zur Vorkriegszeit sein werden.
Auf diese „Weaponisation“ der Energie durch Russland wurde weitgehend mit Entschlossenheit reagiert, und bis auf wenige Ausnahmen hat die Region der russischen Erpressung nicht nachgegeben. Stattdessen ist eine massive Anpassung des Energiesystems im Gange. Aus makroökonomischer Sicht bedeutet der Energiepreisschock eine massive Verschlechterung der „Terms of Trade“ der EU und Deutschlands. Der EU Leistungsbilanzüberschuss hat sich erstmals seit 2008 in ein Defizit verwandelt, da Europa Energie zu deutlich höheren Preisen importieren musste und sein Wechselkurs geschwächt wurde.
In Mittel- und Osteuropa gibt es eine große Anzahl gasintensiver Rohstoffproduzenten, die von den hohen Gaspreisen stark betroffen sind. Viele industrielle Prozesse sind entweder direkt oder indirekt auf Gas als Energiequelle angewiesen. Auf die Industrie entfallen 27 % des gesamten Gasverbrauchs in der EU, wobei dieser Anteil in Deutschland und Mittel- und Osteuropa noch höher ist. Die deutsche Industrie ist mit Tausenden von Lieferanten in den Nachbarstaaten vernetzt. Polen und die Tschechische Republik sind verlässliche Handelspartner und Quellen der Stabilität in Zeiten der Krise. Der Handel mit der Visegrád-Gruppe übertrifft sogar den Handel mit China.
Die Energiesicherheit in Deutschland und Mittel- und Osteuropa ist also von zentraler Bedeutung für unsere wirtschaftliche Zukunft. In Deutschland wurden beträchtliche Energieeinsparungen erzielt, ohne dass zu dem gefürchteten wirtschaftlichen Zusammenbruch gekommen ist, dank der flexiblen Anpassung in Industrie und bei den Haushalten auf die neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Region reagierte auch mit dem Ausbau alternativer Gaslieferungen und LNG-Import Kapazität. Gasströme verlagerten sich von der Ost-West-Richtung nach West-Ost. Kurzfristig steigt der Einsatz von Kohle. Mittelfristig werden erneuerbare Energien und in Osteuropa möglicherweise Kernenergie eine größere Rolle spielen.
Was gilt es nun zu tun?
Oberste Priorität hat die Aufrechterhaltung der Integrität des EU-Energiemarktes und der grenzüberschreitenden Energieströme. Deutschland dient zunehmend als Transitknotenpunkt für europäisches Gas, da die weltweiten LNG-Importe über Belgien und die Niederlande und Gas aus Norwegen durch Deutschland die unterbrochenen Gaslieferungen aus Russland ersetzen. Eine IWF Studies zeigt, dass Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei aufgrund ihrer Abhängigkeit von russischem Gas am stärksten von Lieferenpässen betroffen wären. Folglich ist die Sicherheit der Gasflüsse auch eine wesentliche Komponente für die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Stabilität.
Die norwegische Pipeline-Infrastruktur hat sich zu einer kritischen Arterie für die Gasversorgung Deutschlands sowie Mittel- und Osteuropa entwickelt. Hybride Angriffe gegen sie könnten die Energiesicherheit der gesamten Region untergraben. In Anbetracht der Risiken für diese Pipeline-Infrastruktur ist ihr Schutz weiterhin eine Priorität für Militär und Nachrichtendienste.
Das Entstehen neuer Verbindungsleitungen und der Ausbau der LNG-Kapazitäten in den baltischen Staaten und Polen zeigt dass die Nord-Süd-Verbindungen eine wichtigere Rolle für der Versorgung der Binnenstaaten in Mittel und Osteuropa spielen werden. Zugleich werden neue Pipeline- und LNG-Kapazitäten in Südosteuropa, gekoppelt mit verbesserten Verbundnetzen, auch zur Versorgungssicherheit in der Region beitragen. Investitionen in die Gasinfrastruktur auf der Nord-Süd-Achse in Mittel- und Osteuropa werden Länder in die Lage versetzen, ihre Gaslieferungen über die Pipeline-Infrastruktur u. a. aus Aserbaidschan und Algerien und den weltweiten LNG Märkten zu diversifizieren. Diese neue Geografie der Gasversorgung wird auch für die deutsche Außenpolitik prägend sein.
Der Ausbau der Kapazitäten für erneuerbare Energien hat sich dank des starken Preissignals beschleunigt. Die EU hat zum Beispiel ihre Einfuhren von Solarpanelen in der ersten Hälfte des Jahres 2022 im Vergleich zur ersten Hälfte 2021 verdoppelt. Mehrere Regierungen haben die administrativen Hürden für den Ausbau der erneuerbaren Energien abgebaut. Dennoch wird es Jahre dauern, bis erneuerbare Energie russisches Gas bzw Flüssiggas ersetzen können. Die Entwicklung von grünen Wasserstoffkapazitäten wird dazu beitragen, Erdgas in industriellen Prozessen, die hohe Temperaturen erfordern, zu ersetzen. Beim Ausbau mit erneuerbarer Energie gilt es, neue Sicherheitsrisiken und Abhängigkeiten, zB von China, von Anfang an in die strategischen Überlegungen einzuschließen.
Versorgungssicherheit wird in den nächsten Jahren eine Priorität bleiben. Die kommenden zwei Jahre könnten noch schwieriger werden als das, was wir derzeit erleben. Der harte Wettbewerb auf dem globalen LNG-Markt wird es schwieriger und teurer machen, Lieferungen zu sichern, obwohl Europa über mehr Kapazitäten für Flüssiggasimporte verfügt. Die Reduzierung der Nachfrage bleibt also Priorität für die Versorgungssicherheit.
Die derzeitige Energiesituation erfordert mehr denn je ein gemeinsames Vorgehen der gesamten EU. Die Aufrechterhaltung der Integrität des Energiemarktes, der Bau zusätzlicher Verbindungsleitungen zwischen den Ländern, und die Gewährleistung, dass Gas dorthin fließt, wo es am meisten gebraucht wird, sowie der beschleunigte Ausbau mit Erneuerbaren sind entscheidend dafür dass die EU-Wirtschaft die Anpassung der nächsten Jahre meistern kann.
Guntram Wolff ist der Direktor und CEO der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und in Teilzeit Professor an der Freien Universität Brüssel.